Gruppendynamik hinterm LenkradDie Bedeutung der Anwesenheit anderer für Verhalten und Erleben von Autofahrernvon Dr. Michael Geiler Dass sich im Verkehrsgeschehen die beteiligten Verkehrsteilnehmer gegenseitig beeinflussen, ist unumstritten. Doch welchen Einfluss haben Mitfahrer und Mitfahrerinnen auf das Fahrverhalten und das Unfallrisiko des Fahrers? Im heutigen Straßenverkehr kommt es ausgesprochen selten vor, dass ein Autofahrer alleiniger Nutzer des Verkehrsraumes ist. Im Regelfall sind an einer Verkehrssituation mehrere Verkehrsteilnehmer beteiligt. Es finden dann soziale Interaktionen statt, das heißt, zwischen den Beteiligten kommt es zu Beeinflussungen und Gegenbeeinflussungen. Auch im Fahrzeug tut sich was Eine soziale Interaktionssituation, in der komplexe gruppendynamische Prozesse ablaufen können, liegt auch dann vor, wenn sich mehrere Personen im Fahrzeug befinden. Damit stellt sich die Frage, welche Auswirkungen Beifahrer auf das Verhalten und Erleben des Fahrers und damit auch auf das Unfallrisiko haben können. Es gibt hierzu eine Reihe von Studien. Sie zeigen weitgehend übereinstimmend, dass die Anwesenheit von Beifahrern zu verringerter Geschwindigkeit und zu größerem Abstand zu vorausfahrenden Fahrzeugen führt. Vermutlich richtet der Fahrer einen Teil seiner Aufmerksamkeit auf den Beifahrer; der Beifahrer zieht Aufmerksamkeit auf sich. Somit hat der Fahrer für die Fahraufgabe weniger Aufmerksamkeit verfügbar. Er gleicht dies dadurch aus, dass er die Geschwindigkeit vermindert und sich dadurch die Fahraufgabe erleichtert. Krüger u.a. (1998) kommen in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass mit Beifahrern in der Regel das Unfallrisiko verringert ist (um 15% bei Zweipersonenfahrten; um 8% bei Mehrpersonenfahrten). Auch Schupp und Schlag (1999) ermittelten, dass sich die Wahrscheinlichkeit, eine Kollision mit einem anderen Pkw zu verursachen, deutlich vermindert, wenn sich Mitfahrer oder Mitfahrerinnen im Fahrzeug befinden. Für allein fahrende Männer war dieses Unfallverursachungsrisiko am höchsten; für Frauen in jeder Konstellation im Vergleich zu Männern geringer, für Männer jedoch dann besonders niedrig, wenn sie in Begleitung einer Frau fuhren (s. Abb.). Bei hohen Fahrzeugbesetzungen stieg das Risiko, eine Kollision mit einem anderen Pkw zu verursachen, wieder an. Außerdem zeigten sich Unterschiede zwischen den neuen (nbl) und den alten Bundesländern (abl).
Unter Beobachtung Welche psychologischen Prozesse sich beim Fahrer abspielen können, sobald Beifahrer anwesend sind, beschreibt die Theorie der Selbstaufmerksamkeit (Duval u. Wicklund, 1972). Sie nimmt an, dass der Mensch seine Aufmerksamkeit in einem bestimmten Augenblick entweder überwiegend auf sich selbst oder überwiegend auf äußere Ereignisse richtet. Wenn man glaubt, beobachtet zu werden, z.B. durch Zuschauer oder eine Kamera, rückt die eigene Person stärker ins Bewusstsein. Die Person richtet ihre Aufmerksamkeit stärker auf den eigenen Zustand, die eigenen Gefühle und Einstellungen. Die Person wird gewissermaßen zum außen-stehenden Beobachter ihrer selbst. In solchen Situationen erhöhter Selbstaufmerksamkeit neigt man dazu, sich mehr darum zu sorgen, wie andere einen sehen. Man hält sich enger an soziale Regeln und Normen und das eigene Verhalten wird kontrollierter und »strategischer« (Forgas, 1992). Diese Konzentration auf sich selbst bewirkt auch, dass sich die Person stärker als die Ursache ihres Handelns sieht und weniger die äußeren Umstände und Bedingungen verantwortlich macht. Außerdem werden der Person die eigenen Einstellungen bewusster. Sie gewinnen damit eine größere Steuerungsfunktion für das Verhalten. Personen, die eine sicherheitsbewusste Einstellung haben, bringen unter dem Einfluss von Beobachtern diese Einstellung stärker in ihrem Verhalten zum Ausdruck, als sie es ohne Beobachter tun würden (Krüger u.a., 1998). Dies vor allem dann, wenn die eigenen Einstellungen mit den wahrgenommenen Erwartungen der Mitfahrer übereinstimmen. Somit hätten Beifahrer, weil sie die Selbstaufmerksamkeit beim Fahrer erhöhen, eine risikodämpfende Wirkung.
Im Sog der Gruppe Allerdings sind auch risikoerhöhende Auswirkungen der Anwesenheit von (gleichaltrigen) Mitfahrern - vor allem im Hinblick auf junge Fahrerinnen und Fahrer - diskutiert worden. Die Fahrzeugbesatzung stellt ein komplexes Sozialsystem auf Rädern dar, in dem komplizierte Interaktionen und Prozesse sozialer Beeinflussung und Gegenbeeinflussung ablaufen können. Erwartungen von Mitfahrern - und seien sie vom Fahrer lediglich vermutet - können Motivkonflikte in Gang setzen: Sicherheitsorientierte Verhaltensweisen können in Konflikt geraten mit risikoerhöhenden Tendenzen. Aus der experimentellen Kleingruppenforschung ist das Phänomen des »Risky Shift« bekannt. Es besagt in seiner ursprünglichen Form, dass Gruppen zu riskanteren Entscheidungen neigen als Einzelpersonen. Das Phänomen, dass die Risikofreudigkeit des Einzelnen im Sog einer Gruppe wesentlich höher ist, wurde verschiedentlich auch in seiner Bedeutung für das Verhalten im Straßenverkehr diskutiert (z.B. Raithel, 1998). In einer Befragung von Weissbrodt (1989) gaben jugendliche Autofahrer an, schneller, abgelenkter und »lockerer« zu fahren, wenn jüngere und gleichaltrige Mitfahrer anwesend sind. In Gruppensituationen kann der Fahrer die Verpflichtung erleben, den (tatsächlichen oder nur vermuteten) Erwartungen der Mitfahrer nach einem zügigen und risikobetonten Fahrstil nachzukommen. Der Fahrer kann dazu neigen, durch riskantes Fahren den Mitfahrern seine Kompetenz unter Beweis stellen zu wollen, um bei ihnen Anerkennung und hohen Status zu erreichen. Die gruppendynamischen Prozesse im Fahrzeug (z.B. intensive Interaktion, ausgelassene Stimmung, gemeinsames Musikerleben, direkte oder indirekte Aufforderung zu schneller Fahrt) können zu einer Diffusion von Verantwortung führen, d.h. der Fahrer fühlt sich nicht mehr allein verantwortlich (»Wir fahren gemeinsam«). Sein subjektives Sicherheitsgefühl kann sich erhöhen. Die von den Mitfahrern ausgehenden Signale können vom Fahrer als Hinweis interpretiert werden, dass die Situation nicht gefährlich ist (»wenn alle so gut drauf sind, kann es so gefährlich doch nicht sein«). In präventiver Hinsicht wäre es wichtig, den Fahrer für das Erkennen von Gruppenprozessen sensibel zu machen. Es käme auch darauf an, Selbstbehauptung zu trainieren und die Fähigkeit des Fahrers zu stärken, sich gegen den risikoerhöhenden Einfluss von Mitfahrern abzuschotten. Der Fahrer sollte sich z.B. klarmachen, dass er der Chef der Gruppe ist. Er müsste sich bewusst machen, dass er Herr der Situation zu sein hat und das Steuer nicht aus der Hand geben darf, sondern einem Piloten vergleichbar ist, der sich von seinen Passagieren ja auch nicht zu riskanten Flugmanövern verleiten lässt. Der Reiz des Verbotenen Einflussversuche anderer, die uns z.B. zu einem bestimmten Verhalten oder einer bestimmten Einstellung bringen wollen, können nicht nur zu angepasstem Verhalten führen. Sie können im Gegenteil auch Widerstände auslösen. Sieht man sich in seiner Wahlfreiheit bzw. in seinen Kontrollbefugnissen eingeschränkt oder erwartet man eine Bedrohung seiner Freiheit, dann kann es zu Gegenreaktionen kommen. Es entsteht ein starkes Motiv, diese Einengung oder Einschränkung aufzuheben und rückgängig zu machen. Diese motivationale Tendenz wird Reaktanz genannt (Brehm, 1972). Es gewinnen diejenigen Handlungsmöglichkeiten und Objekte an Attraktivität, die uns jemand nehmen will. Gerade das wirkt faszinierend, was verboten wird. Auch in Beifahrersituationen kann Reaktanz auftreten. Sieht sich der Fahrer z.B. durch Äußerungen der Mitfahrer kritisiert und zu risikobewusster Fahrweise aufgefordert, kann er - weil er dies als Einschränkung seines Freiheitsspielraumes empfindet - dazu neigen, an seiner riskanten Fahrweise festzuhalten. Holte (1994) kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass Einwände von Freunden gegen riskantes Verhalten, wenn sie in alltäglichen Zusammenhängen ausgesprochen werden, die Risikobereitschaft nicht verringern. Im Gegenteil, sie können risikobetonte Einstellungen sogar noch verfestigen. Äußerungen wichtiger Bezugspersonen haben nur dann eine Chance, wenn sie mit großer Ernsthaftigkeit, Bestimmtheit und ggf. unter Androhung von Konsequenzen ausgesprochen werden.
|