Denn sie wissen jetzt, was sie tun


Eine Höhenrettungsübung im Tiefkühl-Hochregallager der Großbäckerei Brinker in Herne schließt Sicherheitslücken
von Elfi Braun | aus Akzente

Bild: Mitarbeiter der Großbäckerei Brinker üben den Ernstfall



Die Höhenrettung eines im Auffanggurt hängenden Mitarbeiters üben, um im Ernstfall das Richtige zu tun – darüber hatte man in der Großbäckerei Brinker in Herne nie wirklich nachgedacht. Thomas Real, Technischer Aufsichtsbeamter der BGN, wollte eine solche Situation, die für den im Auffanggurt Hängenden lebensgefährlich ist, nicht dem Zufall überlassen. Er bestand auf einer Rettungsübung.

Wenn Sven Erdmer heute in schwindelnder Höhe und bei – 26°C im Tiefkühl-Hochregallager der Großbäckerei Brinker in Herne eine verklemmte Palette richtet, dann ist er konzentriert bei der Sache. Ein mulmiges Gefühl hat er nicht. Denn er weiß: Sollte er da oben einmal abrutschen und im Auf­fanggurt hängen, dann wissen seine Kollegen jetzt genau, was sie tun müssen. Sie kennen jeden einzelnen Handgriff – seit sie in der Höhenrettung unterwiesen wurden und alle Einzelheiten geübt haben.
Sven Erdmer erzählt: »Wir haben nie richtig darüber nachgedacht, wie es sein würde, wenn tatsächlich mal einer von uns da oben von einer sicheren Standfläche abrutscht. Heute kann ich nur sagen: Zum Glück war noch nie was passiert. Die Regalfirma hatte uns zwar ein Rettungsgerät mitgeliefert, aber nicht erklärt, wie es funktioniert. Und von uns hat es auch keiner mal ausprobiert oder damit geübt.« Dem Technischen Aufsichtsbeamten der BGN, Thomas Real, gefiel das alles gar nicht. Er hatte Zweifel, ob eine Höhenrettung wirklich problemlos ablaufen würde, sollte sie eines Tages im 15,7 Meter hohen vollautomatischen TK-Kanallager einmal notwendig werden. Und wussten die Mitarbeiter im Lager zum Beispiel über das Hängetrauma Bescheid, das einem Abgestürzten im Auffanggurt schon nach kurzer Zeit droht? Thomas Real erzählt: »Wenn da jemand abstürzt, dann muss er ganz schnell aus der frei hängenden Position gerettet werden. Sonst droht ihm ein Hängetrauma. Und das kann tödlich enden, wenn die Retter nicht das Richtige tun.«

Bild: Mitarbeiter der Großbäckerei Brinker üben den Ernstfall



Die Feuerwehr würde zu spät kommen
Im Betrieb hatte man sich auch da­rauf verlassen, in einem solchen Fall die Feuerwehr zu Hilfe zu rufen. Die kannte sich ja schließlich mit Höhenrettung aus. Auch hier war der BGN-Mann skeptisch, ob die Feuerwehr schnell genug da sein würde. Er erinnert sich: »Es stellte sich dann heraus, dass der Höhenrettungstrupp der Feuerwehr mindestens 30 Minuten bis in den Betrieb braucht, weil dieser Trupp nicht ständig in Bereitschaft ist. Die Retter müssen daher zum Teil aus ihrer Freizeit heraus alarmiert werden. Bei dem Abgestürzten treten aber schon nach 2 bis 12 Minuten Herzrhythmusstörungen und Bewusstlosigkeit auf.« Nur Mitarbeiter vor Ort sind also im Ernstfall schnell genug, um den Kollegen, der im Auffanggurt hängt, zu retten. Dazu aber müssen sie wissen, wie es geht. Das überzeugte auch die Geschäftsleitung. Sie engagierte zwei Mitarbeiter einer Industriekletterer-Firma, um die Unterweisung und Übungen mit dem Lagerpersonal durchzuführen.
So lernten die 15 Mitarbeiter des Brinker'schen TK-Lagers dann an einem Samstag im Sommer alles, was sie in Sachen Höhenrettung wissen müssen. Mit Theorie ging's los, dann kam der praktische Part. Industriekletterer andreas ten hoevel erzählt: »Wir haben uns langsam herangetastet und mit Boden unter den Füßen angefangen. Jeder Mitarbeiter musste in den Auffanggurt steigen und sich darin hängen lassen. Dieses Gefühl beim Hängen muss man selbst erlebt haben.« Und dann ging es in höhere Gefilde.

 

Unter Hängetrauma versteht man einen Kreislaufzusammenbruch aufgrund des freien, bewegungslosen und aufrechten Hängens in einem Auffanggurt. Bereits nach wenigen Minuten kann Bewusstlosigkeit ein­treten.

 

Jeder übt alles
In einem außerhalb des Tiefkühl­bereiches liegenden Hallenteil mit mehreren über Treppen zugänglichen Brüstungen übten die Mitarbeiter in voller Kälteschutzkleidung dann das freie Hängen im Auffanggurt und das Bedienen des Höhenrettungsgerätes. Auch hier musste jeder Mitarbeiter beides durchlaufen. Sven Erdmer erinnert sich: »Es ist nicht wirklich bequem in dem Gurt, und für den Kreislauf ist es eine schwierige Situation. Wir haben gelernt, beim Hängen unbedingt die Beine zu bewegen. Wegen der Blutzirkulation. Die muss in Gang gehalten werden. Das muss jeder wissen, der da hoch klettert. Darauf kommt man doch nicht von alleine.«
Zum Einsatz kommt an diesem Tag Bergsteiger-Equipment. Die Auffanggurte sind wesentlich körpernäher und schneller anzuziehen als

Bild: Mitarbeiter der Großbäckerei Brinker üben den Ernstfall

herkömmliche Gurte. Und auch das Rettungshubgerät ist einfach und sicher zu bedienen. Mit zwei Handgriffen hat der Mann die Kara­binerhaken des Verbindungsmittels an Stahlverstrebungen eingeklinkt, ist über die Brüstung geklettert und hängt jetzt frei in dem Auffanggurt. Mit Hilfe zweier Gurtbänder hat sein Kollege eine Etage über ihm ein festes Widerlager für das Rettungshubgerät gefunden und lässt jetzt ein Seilende mit Karabinerhaken zu ihm herunter. Dann kommt er selbst eine Etage tiefer. Er befestigt den Karabinerhaken des Rettungshubgerätes an der Schulteröse des Auffanggurtes und zieht den Mann so weit hoch, dass er die Karabinerhaken des Verbindungsmittels ausklinken kann. Jetzt hängt der Mann nur noch am Rettungshubgerät, mit dem er nun dosiert, also langsam, abgeseilt wird.

Jetzt gibt's kein Vertun mehr
andreas ten hoevel erklärt: »Ganz entscheidend ist jetzt die Lagerung des Geborgenen: Man darf ihn auf keinen Fall hinlegen, sondern muss unbedingt den Oberkörper höher lagern. Das verhindert, dass das Blut aus den Beinen abrupt zurück in den Körper schießt. Dabei würde es nämlich zu Herzversagen kommen.« Auch bei dieser Übung ist es ten hoevel wichtig, dass jeder Teilnehmer diese lebensrettende Maßnahme des richtigen Lagerns mit einem Kollegen selbst durchführt. Er fügt hinzu: »Und gebt das bitte auch an die Besatzung des Rettungswagens weiter. Die müssen auch wissen, dass sie den Geborgenen nicht hinlegen dürfen. Und denkt daran: Nach einer solchen Rettung muss der Mann auf jeden Fall sofort ins Krankenhaus auf die Intensivstation, denn noch bis 48 Stunden nach dem Absturz droht akutes Nierenversagen. Also bloß nicht denken: Den haben wir ja jetzt sicher da runtergeholt und alles ist bestens.«
Thomas Real hat die Übung an diesem Samstag mitverfolgt und ist zufrieden: »Ich konnte mich davon überzeugen, dass die Mitarbeiter mit dem Rettungshubgerät umgehen können und wissen, worauf es ankommt. Dass im Ernstfall der Zeitfaktor eine wesentliche Rolle spielt und sie auf sich gestellt sind, ist jedem hier klar geworden.«
Auch Sven Erdmer und seine Kollegen finden, dass es sich gelohnt hat, diesen freien Tag für eine Übung zu opfern. Sven Erdmer: »Jeder, der da hoch muss, weiß jetzt: Da unten in der Regalgasse steht ein Kollege, der jeden meiner Schritte beobachtet und der im Ernstfall genau weiß, was er tun muss. Das ist ein gutes Gefühl.«

 

Autor: Braun