Ergonomie in der Produktion

Die Vorteile eines ergonomisch gestalteten Arbeitssystems / Praxisbeispiele

Ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze, Arbeitsmittel und Arbeitsabläufe tragen dazu bei, dass Mitarbeiter gesund, zufrieden und leistungsfähig bleiben. Sie verringern Belastungen und Beanspruchungen und damit Gesundheitsbeschwerden, Ausfälle und Krankheitstage. Ein weiterer Vorteil ergonomischer Arbeitsgestaltung: Die Prozesse werden sicherer und effizienter.

von Dr. Elke Töllner

[ Dr. Elke Töllner ist Mitarbeiterin der bgn-Prävention in der Abteilung „Zentrale Anlagenberatung/ Internationale Verbindungen“ und Fachberaterin für Ergonomie. ]

Das Thema Ergonomie wird immer mehr zu einem wichtigen Handlungs- und Gestaltungsfeld von Unternehmen. So sind alternde Belegschaften für Unternehmen häufig Anlass, sich mit der ergonomischen Umgestaltung bestehender Arbeitsplätze zu befassen. Mit ergonomisch optimierten Arbeitsplätzen und -bedingungen wollen sie die Arbeitsfähigkeit ihrer Belegschaften erhalten und einem steigenden Krankenstand älterer Beschäftigten entgegenwirken.

Ergonomisch optimierte Arbeitsplätze und Arbeitsprozesse sind allerdings nicht nur für ältere Beschäftigte sinnvoll, sondern für alle. Weil sie langfristig dazu beitragen, dass alle gesund, zufrieden und leistungsfähig bleiben. Weil sie etwa Muskulatur- und Skeletterkrankungen oder auch psychischen Belastungen vorbeugen. Arbeitsplätze mit hohen körperlichen Belastungen sind weder für ältere noch für jüngere Beschäftigte geeignet.

Belastungsschwerpunkte

Belastungsschwerpunkte in vielen bgn-Mitgliedsbetrieben sind das Heben und Tragen wie z. B. beim Palettieren von Hand sowie das Ziehen und Schieben von Lasten wie beim Transport von Behältern. Weitere Belastungsfaktoren können sich dauernd wiederholende Tätigkeiten mit der immer gleichen (Hand-) Bewegung sein: z. B. in einer Schicht 2.400- mal je fünf Schokoladentafeln à 100 g greifen und in eine Faltschachtel packen. Belasten können zudem ungünstige Körperhaltungen oder Zwangshaltungen z. B. bei Reinigungs- und Instandhaltungsarbeiten. Weitere Belastungsfaktoren sind u. a. Lärm, Zugluft, Hitze, Vibrationen.

Wie Belastungen beurteilt werden können

Belastungen und Belastungsschwerpunkte zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken ist Chefsache. Im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung werden alle Faktoren, die die Arbeit – teilweise unbemerkt – erschweren können, untersucht und beurteilt. Konkret umfasst das z. B. eine Arbeitsplatzanalyse unter Berücksichtigung der Interaktion zwischen Mensch und Arbeitsmittel sowie der individuellen Voraussetzungen und Fähigkeiten der Mitarbeiter. Denn auch die individuelle Beanspruchung am Arbeitsplatz muss bei den Maßnahmen zur ergonomischen Verbesserung von Arbeitsplätzen und -abläufen eine Rolle spielen.

Bild 1

Bild 1 Höhe und Neigung der Wagen mit Packstoff können genau auf die Körpergröße des jeweiligen Mitarbeiters am Band eingestellt werden. Sie sind aus einem flexiblen Rohrstecksystem gefertigt.

Zur Beurteilung der objektiven Belastung für den Bewegungsapparat beim Heben, Tragen, Halten sowie Ziehen und Schieben von Lasten haben sich die von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) entwickelten Leitmerkmalmethoden bewährt. Aus mehreren Leitmerkmalen wird ein Punktwert berechnet, der die beurteilte Tätigkeit „Heben und Tragen von Lasten“ und „Ziehen und Schieben von Lasten“ einem von vier Risikobereichen zuordnet (siehe Kasten Seite 6).
Zwei Beispiele:

In der Abfüllung von Getreideprodukten hebt ein 30-jähriger Mitarbeiter 10-mal am Arbeitstag 25-kg-Säcke von einem 0,5 Meter hohen Band. Nach der Leitmerkmalmethode wird aufgrund des tiefen Rückenbeugens und der eingeschränkten Bewegungsfreiheit Risikobereich 2 erreicht. Das heißt, es besteht eine erhöhte Belastung. Bei minderbelastbaren Mitarbeitern ist eine Überbeanspruchung möglich, die durch Gestaltungsmaßnahmen vermieden werden kann.

Gestaltungsmaßnahmen sind auf jeden Fall angezeigt, wenn die Berechnung mit der Leitmerkmalmethode Risikobereich 3 ergibt. Das ist z. B. der Fall, wenn Frauen Lasten von 10 bis 15 kg 50-mal am Arbeitstag über Schulterhöhe heben.

Wie Belastungen verringert werden können

Eine wesentliche Einflussgröße beim Heben und Tragen ist die Körperhaltung. Ungünstige Körperhaltungen können oft durch einfache Gestaltungsmaßnahmen vermieden und somit körperliche Belastungen verringert werden. Solche Maßnahmen sind u. a.:

GESTALTUNGSGRUNDSÄTZE
für die Ergonomie in der Produktion
  • Belastungen vermeiden oder minimieren
  • Arbeitsaufgaben an die Körperkräfte anpassen
  • ausreichender Bewegungsfreiraum
  • Gefährdungen durch angepasstes Arbeitstempo und geeigneten Arbeitsrhythmus vermeiden
  • uneingeschränkte und dauernde Aufmerksamkeit bei Bedien- und Überwachungstätigkeiten vermeiden
  • die Schnittstelle Mensch/Maschine an die voraussehbaren Eigenschaften des Bedienungspersonals anpassen

Auch durch die Anpassung der Arbeitshöhe lassen sich Belastungen reduzieren, wie folgende Beispiele zeigen:

An einer Verpackungsmaschine legen Mitarbeiter die Kartonzuschnitte von Hand ein. Ein Mitarbeiter nimmt die Zuschnitte von einem Hubwagen, ein anderer von einer Palette. Beide können das Gewicht der Last beeinflussen, indem sie mehr oder weniger Zuschnitte auf einmal nehmen. Entscheidend für den Risikobereich ist auch wieder die Körperhaltung: Am Paletten-Arbeitsplatz beKonzentrationssteht aufgrund des erforderlichen tiefen Beugens Risikobereich 3, am Hubwagen-Arbeitsplatz dagegen Risikobereich 2, da hier das Beugen entfällt.

Bild 2

Bild 3

Bild 2 und 3
Die Packstation für Mischware lässt sich per Handkurbel auf die Arbeitshöhe des Bedieners einstellen.

Am Ende einer Verpackungslinie nehmen Mitarbeiter von Hand Kartons à 3,4 kg von einem 0,6 Meter hohen Rollband. Nachdem das Band erhöht oder schräg aufgebaut wurde, können sie die Kartons jetzt in aufrechter Haltung und körpernah aufnehmen.

[ Wir danken der Bahlsen GmbH & Co. kg in Barsinghausen, die uns die Fotoaufnahmen der ergonomisch vorbildlich gestalteten Arbeitsplätze ermöglichte. Zusammen mit den Beschäftigten werden dort fortlaufend und systematisch technische Hilfsmittel zur körperlichen Entlastung entwickelt. ]

Ergonomie bei Maschinen und Anlagen

Um Belastungen an Maschinen- und Anlagenarbeitsplätzen zu reduzieren oder zu vermeiden, sind zuerst die Hersteller gefordert, bei Konzeption und Bau von Maschinen ergonomische Prinzipien anzuwenden. Zu empfehlen ist, diese allgemeinen Prinzipien in einem Lastenheft einzufordern. Zusätzlich sollte der Hersteller/Lieferant aber auch die betrieblichen Gegebenheiten wie Raumangebot, Tragkräfte usw. berücksichtigen, was ebenfalls im Lastenheft festgehalten werden sollte. Im Rahmen ihres Dienstleistungsprogramms zur Maschinenund Anlagensicherheit bietet die bgn an, Unternehmen bei der Umsetzung von Ergonomieanforderungen bei Maschinen und Anlagen zu unterstützen (Infos zum Programm: www.bgn.de, Shortlink = 892).

LEITMERKMALMETHODE UND RISIKOBEREICHE
Risikobereich Belastung Überbeanspruchung Gestaltungsmaßnahmen
1 gering unwahrscheinlich  
2 erhöht bei vermindert belastbaren Personen* möglich für vermindert belastbare Personen* sinnvoll
3 wesentlich erhöht auch bei normal belastbaren Personen möglich angezeigt
4 hoch wahrscheinlich erforderlich
* Beschäftigte über 40 oder unter 21 Jahren, Neulinge im Beruf und erkrankungsbedingt leistungsgeminderte Beschäftigte.

Nachweislich führen immer wieder ungünstig gestaltete Zugänge zu Maschinen, schwer erreichbare Arbeitsmittel oder Stellteile oder unsichere Auftritte an Maschinen und Anlagen zu Unfällen. Dagegen reduzieren nach ergonomischen Prinzipien gestaltete Arbeitsplätze an Maschinen und Anlagen Ermüdungserscheinungen, Konzentrationsverluste und dadurch bedingte Fehler des Bedienpersonals und beugen somit Maschinenunfällen vor.

Bild 4

Bild 4
Hubwagen mit automatischer Höhenanpassung erleichtern den Abtransport gefüllter Kartons sowie die Warenzufuhr am anderen Ende der Zuführgestelle.

Bild 5

Bild 5
Passgenauer Transportwagen für eine schwere Walze, die regelmäßig an einer Maschine ausgetauscht werden muss: Die Wagenhöhe entspricht genau der Einschubhöhe der Walze.

Bei der Gefährdungsbeurteilung der Maschinenund Anlagenbetreiber müssen auch die ergonomischen Faktoren wie z. B. Lärm, Vibrationen, Klima, Beleuchtung, Strahlung, Gefahrstoffe oder die Einbindung der Maschine in vor- und nachgelagerte Arbeitsabläufe überprüft und bewertet werden, um belastungs- und beeinträchtigungsfreie Arbeitsplätze und -abläufe realisieren zu können.

Bei einer Arbeitsplatzanalyse nach ergonomischen Kriterien wurde mit Unterstützung der BGN in einem Unternehmen der gesamte Arbeitsprozess unter die Lupe genommen. Beim Reinigen einer Anlage, die staubende Produkte abfüllt, fiel auf, dass die Mitarbeiter in vorgeneigter Haltung, kniend oder in der Hocke staubsaugten. Daraufhin wurden die Staubsauger mit langen Rohren ausgerüstet. Seitdem können die Mitarbeiter in entspannter Haltung reinigen. Hinterfragt wurde auch der hohe Reinigungsaufwand, der durch die teilweise großen Staubmengen anfiel. Man stellte fest, dass alle Produkte ungeachtet ihrer Korngröße in denselben Anlagen unter denselben Bedingungen abgefüllt werden. Daraufhin baute man für stark staubende Produkte zusätzliche, dichtere Behälter in die Abfüllanlagen ein, wodurch der Reinigungsaufwand abnahm. Neben dieser technischen Maßnahme organisierte man den Reinigungsplan neu, sodass jetzt nicht mehr an allen Abfüllanlagen gleichzeitig gereinigt wird.

ERGONOMIE PUNKTET

Die BGN belohnt Betriebe mit 4 Prämienpunkten, wenn sie Maßnahmen umgesetzt haben, die das manuelle Heben und Tragen von Lasten überflüssig machen. Ebenfalls 4 Prämienpunkte gibt es für Arbeitsplätze, die an die Körpergröße der daran arbeitenden Beschäftigten anpassbar sind.

 

Die BGN führt Projekte u. a. mit ergonomischen Fragestellungen durch. Die gewonnenen Erkenntnisse über typische Gefährdungen, aber auch beispielhafte Lösungen der versicherten Branchen liefern die Grundlage für passgenaue Arbeitsschutzangebote und -dienstleistungen der BGN. Für die Teilnahme an einem solchen Projekt erhalten Unternehmen 10 Prämienpunkte. Kontakt: 0621 4456-3636

Ergonomie präventiv, nicht reparativ umsetzen

Die Arbeitsbedingungen und die Erwerbsbiographie eines Menschen haben einen maßgeblichen Einfluss auf seinen Gesundheitszustand. Die Auswirkungen ergonomisch ungünstig gestalteter Arbeitsplätze sind nicht immer sofort sichtbar, sondern machen sich häufig schleichend bemerkbar. Deshalb sollten Arbeitsplätze nicht erst dann ergonomisch gestaltet werden, wenn Beschwerden auftreten. Vielmehr sollten ergonomische Prinzipien bereits bei der Planung von Anlagen und den Arbeitsplätzen aller Beschäftigten gleich welchen Alters befolgt werden. Ein wichtiger Schritt, um Arbeit und Gesundheit der Beschäftigten in Einklang zu bringen.

[ Lesen Sie über die ergonomische Arbeitsplatzgestaltung bei Bahlsen in Barsinghausen im akzente-Artikel „Leichter arbeiten“ (Ausgabe 6/2013) www.bgn.de Shortlink = 1430 ]

Autor: Dr. Elke Töllner