Arbeitswelt und Straßenverkehr1

von Dr. Michael Geiler

Zwischen der Arbeitswelt und dem Verkehrsgeschehen bestehen enge Wechselwirkungen und Zusammenhänge. So ist z.B. bekannt, dass mit zunehmendem Bruttosozialprodukt auch die Unfallzahlen steigen. Die in der Arbeitswelt bestehenden Bedingungen (z. B. Dynamik, Verhaltensnormen, Gewohnheiten, „soziales Klima“) schlagen auf das System Straßenverkehr durch und betreffen das Verhalten des Einzelnen.

Reduzierte Verhaltensspielräume

Vorgaben aus der Arbeitswelt reduzieren Spielräume für Mobilitätsentscheidungen (z. B. über Art und Umfang der Verkehrsteilnahme, den Zeitpunkt, die Streckenwahl usw.). Die im beruflichen Kontext stehende Verkehrsteilnahme ist weniger „selbstgetaktet“ als z. B. im Freizeitverkehr. Die Möglichkeiten des Einzelnen, schwierige Verkehrssituationen zu vermeiden, sind drastisch eingeschränkt. Hiervon betroffen sind besonders ältere Erwerbstätige - vor allem, wenn sie in Verkehrsberufen tätig sind. Üblicherweise stellen sich ältere Fahrer auf altersbedingte Leistungseinbußen in der Regel gut ein. Sie kompensieren in unterschiedlicher Weise, z. B. indem sie seltener bei Dunkelheit und schwierigen Witterungsbedingungen fahren. So vermeiden sie belastende Verkehrssituationen. Im beruflich bedingten Verkehr sind derartige Vermeidungsstrategien nur begrenzt anwendbar.

Zeitdruck

In unserer Gesellschaft und besonders im Arbeitsleben gilt Pünktlichkeit als hoch bewertete Tugend. Erlebter Zeitdruck beeinflusst in großem Maße das Geschwindigkeitsverhalten des Verkehrsteilnehmers. Das Schwanken zwischen Hoffen und Bangen ist ein fruchtbarer Boden für Gereiztheit und Ärger. Zeitdruck erschwert die emotionale Selbstkontrolle und ist die häufigste Ursache für rücksichtsloses und aggressives Fahren; er führt oftmals zum „konfrontativen Fahrstil“. Vor allem stellt er einen großen Stressor dar. „Zeitdruck auf Grund wichtiger Termine“ steht nach „extrem dichtem Verkehr“ an zweiter Stelle in der Rangreihe von Situationen, die von Pkw- Fahrern als belastend erlebt werden. Außendienstmitarbeiter nennen Termindruck (entstanden z.B. durch Staus) als den häufigsten Stressauslöser. Lkw- und Lieferwagenfahrer äußern sich in ähnlicher Weise.

„Zeitdruck“ findet sich in keiner amtlichen Unfallursachenstatistik, es ist aber davon auszugehen, dass er sich Unfall begünstigend auswirkt. Befragungen zufolge erleben Erwerbstätige auf dem Hinweg zur Arbeit mehr Zeitdruck als auf dem Rückweg. Vermutlich ist dies mit ein Grund dafür, dass auf Hinwegen mehr Wegeunfälle geschehen als auf Heimwegen.
Zeitdruck kann seinen Ursprung auch außerhalb der Arbeitswelt haben und z.B. aus familiären Verpflichtungen resultieren. Eltern junger Kinder äußern vergleichsweise häufiger, auf dem Arbeitsweg unter Zeitdruck zu stehen. In Untersuchungen gehörten Frauen, die in der Mittagspause Erziehungspflichten zu erledigen hatten, zur höchsten Risikogruppe für Wegeunfälle.

Müdigkeit

Bei beruflich bedingter Verkehrsteilnahme spielt ferner die Müdigkeitsthematik eine prominente Rolle. Dies ist sicherlich auch eine Folge der Entwicklung hin zu einer „Rund-um-die-Uhr-Ökonomie“ (24/7). Müdigkeit ist in vielen Untersuchungen als eine wesentliche Unfallursache ermittelt worden. Sie findet sich vor allem bei Nachtunfällen: 42 Prozent der nächtlichen Unfälle waren ursächlich auf Müdigkeit zurückzuführen. Bei den Unfällen zwischen 14 und 17 Uhr waren es 11 Prozent. Müdigkeit stellt vor allem für Lkw-Fahrer ein Problem dar. Etwa die Hälfte der in entsprechenden Studien befragten Fahrer gab an, am Steuer schon einmal fast eingeschlafen zu sein. Bei den auf einer Autobahnraststätte durchgeführten Messungen der unwillkürlichen Schwankungen des Pupillendurchmessers - der Pupillenunruheindex gilt als Maß für die Tagesschläfrigkeit - zeigten sich bei 23 Prozent der Lkw-Fahrer pathologische Werte (bei Pkw-Fahrern waren es 6 Prozent): Es bestand eine extrem starke Einschlafneigung. Oftmals halten Lkw-Fahrer die erforderlichen Ruhepausen nicht ein. Aus Sicht der Fahrer sind dafür schlechte Organisation durch Unternehmer und fehlende Parkmöglichkeiten verantwortlich. Knapp 50 Prozent der Fahrer berichten von Schwierigkeiten, einen freien Parkplatz zu finden. Schätzungen gehen von einem Bedarf von 15.000 – 18.000 zusätzlichen Stellplätzen entlang der bundesdeutschen Autobahnen aus.

Betriebliche Bedingungen und Merkmale der Arbeit

Auch betriebsspezifische Bedingungen und Merkmale der Arbeitstätigkeit haben Einfluss auf das Verkehrsunfallrisiko. Neben der Betriebsgröße (in kleineren Betrieben fand sich eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen Wegeunfall) erwiesen sich die Faktoren Arbeitsstress, Arbeitsklima sowie Partizipations- und Einflussmöglichkeiten als bedeutsam. Ungünstige Arbeitszeitregelungen (z. B. geteilte Schichten, unflexible Arbeitszeiten) vergrößern die Unfallquote. Auch Probleme mit Kollegen oder Vorgesetzten können das Unfallrisiko erhöhen, weil sie im Straßenverkehr „mitgeschleppt“ werden und die Konzentration auf die Fahraufgabe reduzieren können.
Ebenso scheinen starke körperliche Belastungen und Monotonie bei der Arbeit das Verkehrsunfallrisiko zu erhöhen. Personen mit einem Wegeunfall bewerteten die Vielseitigkeit ihrer Arbeit geringer als Mitarbeiter ohne Unfall. Außerdem gaben sie häufiger an, Wirbelsäule /Bewegungsapparat seien durch die Arbeit stark belastet. Bei gewerblichen Mitarbeiten fanden sich relativ mehr Wegeunfälle als bei Angestellten. Möglicherweise führen derartige Arbeitsmerkmale zu höherem Zeitdruck bzw. Müdigkeit/ Konzentrationsmangel und schlechter Stimmung auf Arbeitswegen. Diese Befindlichkeiten können mit problematischen Einstellungen zum Fahren und zur Verkehrssicherheit einhergehen (hohe Risikobereitschaft, Bereitschaft zu Regelverletzungen).

Betriebliche Verkehrssicherheitsarbeit

Betriebe haben vielfältige Möglichkeiten, das (Verkehrs-) Unfallrisiko ihrer Mitarbeiter zu reduzieren.

Zu nennen ist an erster Stelle die Etablierung einer ganzheitlichen, integrativ-partizipativen Verkehrssicherheitsarbeit. Ein solcher Ansatz ist unter dem Namen „Betriebsberatung: Verkehrssicherheit und Arbeitswelt“ beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat erschienen. Er basiert auf den Prinzipien „Ganzheitlichkeit“, „Partizipation“ und „Kontinuität“ und erwies sich in mehreren Studien als im erwünschten Sinne wirksam. Es kam zu sicherheitsdienlichen Veränderungen auf der Einstellungs- und Verhaltensebene wie z.B. geringere Risikobereitschaft, weniger Geschwindigkeitsverstöße.

Teil eines solchen Ansatzes können Fahrsicherheitstrainings sein, sofern sie eine realistischere Gefahreneinschätzung der Teilnehmer fördern. Bewährt haben sich vor allem Ökonomie-Fahrtrainings, weil sie einen Risiko vermeidenden und gelassenen Fahrstil vermitteln. Es gibt eine große Bandbreite von Fortbildungsveranstaltungen und Seminaren für (Lkw-)Fahrer und andere betriebliche Zielgruppen, auf denen die verschiedensten Gesundheits- und (Verkehrs-) Sicherheitsthemen behandelt werden (z. B. Stress, Zeitdruck, Ladungssicherung, gesunde Ernährung, Aggression im Verkehr…).

Für Beschäftigte, die in besonderer Weise von der Müdigkeitsproblematik betroffen sind (Nachtarbeiter, Beschäftigte mit ausgedehnten Bereitschaftsdiensten, Schichtarbeiter), sind Maßnahmen gegen das Einschlafen am Steuer wichtig. Sie umfassen neben kommunikativen Ansätzen Veränderungen in der Arbeitsumgebung (z.B. hellere Beleuchtung während der Nachtschicht). Außerdem sollten Ruheplätze geschaffen werden, die vor Antritt der Heimfahrt für einen Kurzschlaf genutzt werden können. Vor allem in Fuhrparks ist eine Fortbildung von Vorgesetzten, Disponenten und Fahrern zum Müdigkeitsthema wichtig. Entsprechende Seminarkonzepte und Informationsmaterialien stehen zur Verfügung. Untersuchungen zeigen, dass derartige Programme die angestrebten Wissens- und Verhaltensänderungen bewirken können.

Betriebliche Verkehrssicherheitsarbeit muss die Veränderung organisatorischer Aspekte einschließen. Der Abbau von Arbeitsstress und Zeitdruck, etwa durch die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle, hat sicherheitsförderliche Konsequenzen. Dort, wo gleitende Arbeitszeiten möglich sind, trüge eine Abschaffung von Kernzeiten zur Belastungsreduktion bei. Um Zeitdruck beim Fahren zu vermindern, ließen sich (ganz abgesehen von verbesserter Planung von Touren/Arbeitsabläufen) belastungsreduzierende Strukturen schaffen. Der Betrieb könnte Verärgerung bei Kunden/ Geschäftspartnern „abfangen“ und sich solidarisch „hinter“ seinen Mitarbeiter stellen, indem er dessen Verspätung telefonisch mitteilt. Der von Außendienstmitarbeitern oft beklagte Stressor „Sandwich-Position“ ließe sich dadurch mildern. Es wäre auch wichtig, dafür zu sorgen, dass Konflikte mit Vorgesetzten und Kollegen gelöst werden, damit Mitarbeiter „abschalten“ können und sich auf ihrem Heimweg besser auf die Verkehrssituation konzentrieren können. Ferner sollten Betriebe ihre Belegschaft dabei unterstützen, berufliche Anforderungen und familiäre Aufgaben besser „unter einen Hut“ zu bringen.

Die BGN unterstützt Firmen bei Planung und Durchführung betrieblicher Verkehrssicherheitsarbeit (Ansprechpartner: Frau Herzog Tel. 0621-44563419 und Herr Balkenhol Tel. 0621-44563423)

 

1 Eine ausführlichere Ausarbeitung findet sich in: Geiler, M. (2010): Arbeitswelt, Straßenverkehrsgeschehen und betriebliche Verkehrssicherheitsarbeit. In: Windemuth, D., Jung, D. und Petermann, O. (2010): Praxishandbuch psychische Belastungen im Beruf. Universum Verlag. Wiesbaden.