Verletzungsrisiken bei beruflich bedingter Verkehrsteilnahme

Erkenntnisse über Unfallrisiken im Wirtschaftsverkehr
von Dr. Michael Geiler

Verkehrssituation


Erkenntnisse über Unfallrisiken unter dem Gesichtspunkt der Verkehrsmittelwahl, des Geschlechts, des Alters und der Tageszeit brachte eine Forschungsarbeit der BGN und des Instituts für angewandte Verkehrsforschung (IVT). Ausgewertet wurden Unfälle, die sich auf dem Weg zur Arbeit, zu Kunden oder auf geschäftlichen Fahrten ereigneten.

Die Studie bringt differenzierte Erkenntnisse über den Wirtschaftsverkehr (Definition siehe Kasten unten). In der Untersuchung von BGN und IVT ging es darum, Kennziffern für das Risiko, auf solchen Wegen (tödlich) verletzt zu werden, empirisch zu ermitteln. Errechnet wurden Verletztenraten sowie Verletzten-Zeitraten. Die Verletztenrate gibt an, wie viele Personen pro 1 Million zurückgelegte Kilometer zu Schaden kommen. Die Verletzten-Zeitrate drückt aus, wie viele Personen pro 1 Million im Verkehr verbrachte Stunden verletzt werden.
In der Studie wurden die Unfalldaten aller gesetzlichen Unfallversicherungen zusammengeführt. Die erforderlichen Kilometer- und Stundenangaben wurden den Mobilitätserhebungen "Mobilität in Deutschland 2002" und "Kraftfahrzeugverkehr in Deutschland 2002" entnommen. Einige Ergebnisse der Studie werden nachfolgend dargestellt.

Verkehrsmittelwahl und Verletzungsrisiko

Das Verletzungsrisiko bei der Teilnahme am Wirtschaftsverkehr hängt zuerst einmal sehr stark vom verwendeten Verkehrsmittel ab. Die größte Gefährdung besteht für Fahrer motorisierter Zweiräder. Am sichersten ist unterwegs, wer öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Eine Stunde mit einem motorisierten Zweirad zu fahren ist statistisch genauso gefährlich wie 192 Stunden mit der Straßenbahn oder dem Zug unterwegs zu sein.
Relativ hohe Verletztenraten finden sich auch bei Fußgängern und Radfahrern. Dies dürfte daran liegen, dass in den Verletztenzahlen nicht nur Fußgänger und Radfahrer enthalten sind, die bei Verkehrsunfällen im klassischen Sinne zu Schaden kamen, z.B. bei einer Kollision mit einem Fahrzeug. Vielmehr gehen auch Alleinunfälle, z.B. Stürze bei Glatteis, in die Statistiken der Unfallversicherungsträger ein. Hervorzuheben sind ferner die niedrigen Kennziffern für Mitfahrer in Pkw und Lkw. Sie liegen deutlich unter den Kennziffern für Fahrer, die ohne Mitfahrer unterwegs sind. So beträgt beispielsweise die Verletzten-Zeitrate für Pkw-Fahrer 17.4, für Pkw-Mitfahrer 4.9. Offensichtlich fahren die Menschen vorsichtiger, wenn sich Mitfahrer im Fahrzeug befinden. Fahrgemeinschaften sind nach diesem Befund also sicherer unterwegs als Einzelfahrer.

Wirtschaftsverkehr
Unter Wirtschaftsverkehr ist die Gesamtheit aller im öffentlichen Raum zurückgelegten Wege zu verstehen, die beruflich bedingt sind: Wege zum Arbeitsplatz, zu Kunden, zum Zweck des gewerblichen Transportes usw.

Risikounterschiede zwischen Männern und Frauen

Große Risikounterschiede bestehen zwischen Männern und Frauen. Das höhere Risiko der Frauen zeigt sich - abgesehen vom Radfahren - bei allen Arten der Verkehrsbeteiligung. Als Fußgängerinnen oder Nutzerinnen öffentlicher Verkehrsmittel ist ihr Risiko etwa doppelt so hoch, beim Fahren eines Pkw oder Lkw bis 2.8 t sogar 3- bis 4-mal so hoch wie das der Männer. Die Analyseergebnisse legen die Vermutung nahe, dass Frauen einen relativ größeren Teil ihrer Kilometerleistung mit dem Pkw im innerstädtischen Straßennetz bzw. auf Landstraßen und weniger auf Autobahnen erbringen. Sie sind also mehr in dem Teil des Straßennetzes unterwegs, das ein erwiesenermaßen höheres Unfallrisiko birgt. Des Weiteren ist denkbar- und es entspricht der Alltagserfahrung -, dass Frauen vergleichsweise häufiger kleinere Fahrzeugmodelle benutzen, die im Falle einer Kollision weniger Schutz vor Verletzungen bieten.

Lebensalter und Verletzungsrisiko

Auch das Lebensalter ist von Bedeutung: Je älter die betrachtete Gruppe ist, desto geringer ist ihre Gefährdung. Das Risiko, z.B. auf einer Dienstreise mit dem Pkw verletzt zu werden, beträgt für die Gruppe der ab 60-Jährigen nur noch ca.7% des Risikos der 18- bis 29-Jährigen. Dass die über 60-Jährigen die geringsten Kennwerte aufweisen, mag damit zusammenhängen, dass es sich um eine spezielle Teilgruppe der Älteren handeln dürfte. Gemeint sind Menschen, die noch aktiv am Wirtschaftsleben teilnehmen, leistungsfähig sind und über viel Erfahrung sowie gute gesundheitliche Voraussetzungen für eine sichere Verkehrsteilnahme verfügen. Außerdem kann das Merkmal Alter mit einer Vielzahl risikovermindernder Bedingungen einhergehen. So ist z.B. denkbar, dass Ältere auf Grund einer gehobenen Stellung im Beruf relativ seltener nachts oder in Schicht arbeiten und daher weniger zu ungünstigen Zeiten am Wirtschaftsverkehr teilnehmen. Möglich ist ferner, dass sie häufiger über größere Pkw verfügen, die eine bessere aktive und passive Sicherheit aufweisen.

Verkehrssituation

Tageszeit und Verletzungsrisiko

Das Verletzungsrisiko ist stark von der Tageszeit abhängig. Es deutet sich eine U-förmige Beziehung an: Die Zeit zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens ist als besonders kritisch anzusehen. Auch die Zeit ab 20 Uhr zeichnet sich durch erhöhte Risikokennwerte aus. Der Vormittag zwischen 9 und 12 Uhr ist die risikoärmste Zeit. Tendenziell liegt das Nachmittags- über dem Vormittagsrisiko.
Im tageszeitlichen Verlauf der Risikokennwerte scheint der Schlaf-Wach-Rhythmus (Zircadian-Rhythmus) zum Ausdruck zu kommen. Die biologische Uhr steuert physiologische und biologische Prozesse sowie die Leistungsfähigkeit. Sie ist etwa zwischen Mitternacht und 5 Uhr morgens und dann noch einmal am Nachmittag zwischen 14 und 16 Uhr reduziert.
Für das Unfallgeschehen während der nächtlichen Stunden dürften außer Müdigkeit und der Gefahr einzuschlafen weitere Faktoren verantwortlich sein: z. B. der subjektive Eindruck von Gefahrlosigkeit mit der Folge, weniger aufmerksam zu sein bzw. schneller zu fahren. Des Weiteren spielen die objektiv schlechteren Wahrnehmungsbedingungen und die dadurch bedingten Schwierigkeiten, die tatsächlichen Verkehrsverhältnisse angemessen einzuschätzen, eine Rolle.
Außerdem ist auch davon auszugehen, dass die Wahrscheinlichkeit von Alkohol- und Drogenfahrten nachts deutlich höher ist als am Tag. Dadurch ergibt sich auch für alkohol- und drogenfreie Verkehrsteilnehmer eine Risikoerhöhung.

Wochenverlauf und jahreszeitliche Einflüsse

Das höchste Verletzungsrisiko im Wochenverlauf besteht an Montagen. Im weiteren Wochenverlauf sind keine großen Schwankungen festzustellen. Möglicherweise deuten die hohen Montagswerte auf Probleme bei der Umstellung von Freizeit auf den Arbeitsalltag hin. Bemerkenswert ist weiterhin, dass am Wochenende das Verletzungsrisiko in etwa genauso hoch ist wie im werktäglichen Durchschnitt.
Auch die Jahreszeit scheint Einfluss auf das Verletzungsrisiko zu haben. Die Verletztenrate ist im Winterhalbjahr von Oktober bis März 1,2- bzw. 1,3-mal höher als in den beiden Quartalen der hellen Jahreszeit. Dieser U-förmige Verlauf der Kennwerte über die Jahresquartale, der den Einfluss der Witterung zum Ausdruck bringen dürfte, lässt sich beim Risiko einer tödlichen Verletzung nicht feststellen.

Unterschiede bei Dienstreisen und Arbeitsweg

Auf dienstlich-geschäftlichen Wegen ist das Verletzungsrisiko deutlich niedriger als auf Arbeitswegen. Ein Grund hierfür kann z. B. sein, dass unter denjenigen, die dienstlich-geschäftlich unterwegs sind, professionelle (Berufs-)Kraftfahrer und weniger Fahranfänger zu finden sind sowie mehr Personen in gehobener beruflicher Stellung und weniger Jugendliche. Außerdem ist denkbar, dass Arbeitgeber von Außendienstmitarbeitern und anderen Beschäftigten, die häufig geschäftlich unterwegs sind, erwarten, dass sie zuverlässig sind und sich verkehrssicher verhalten. Plausibel ist ferner die Vermutung, dass es Unterschiede im technischen Zustand oder in der aktiven und passiven Sicherheit zwischen geschäftlich genutzten Fahrzeugen und Fahrzeugen, die nur für den Weg zur Arbeit genutzt werden, gibt.

Schlussfolgerungen

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist es wichtig, sich den Systemcharakter des Straßenverkehrs vor Augen zu führen. Das Verkehrsgeschehen ist das Ergebnis vieler Einflussgrößen und Bedingungen, die auf unterschiedliche Weise zusammenwirken. Einfache Ursache-Wirkung-Aussagen werden den komplexen Verhältnissen im Regelfall nicht gerecht. Dies gilt auch in Bezug auf die empirisch bestimmten Risikokennziffern. Sie sind zuerst einmal "nur" Beschreibungen einer bestehenden Gefährdungssituation. Die Risikokennziffern wurden in Abhängigkeit mehrerer Merkmale (Art der Verkehrsbeteiligung, Geschlecht, ...) ermittelt. Diese Merkmale müssen aber keineswegs die alleinigen Ursachen für die Höhe des ermittelten Risikos sein. Die Kausalität ist keinesfalls zwingend. Denn die Merkmale können mit anderen das Risiko erhöhenden oder reduzierenden Bedingungen und Größen konfundiert sein.