3 Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung

3.1 Gefährdungsbeurteilung

3.1.1 Grundlagen

(1) Die Beurteilung der Gefährdungen durch explosionsfähige Gemische ist nach § 6 GefStoffV gefordert. Die Gefährdungsbeurteilung bildet die Basis für die Entwicklung des Explosionsschutzkonzeptes. Ein Explosionsschutzkonzept ist erforderlich, sofern das Auftreten explosionsfähiger Gemische nicht bereits unter Berücksichtigung der Dichtheit der Anlage, der natürlichen Lüftung oder organisatorischer Maßnahmen sicher verhindert ist. Dies gilt sowohl für explosionsfähige Atmosphären (TRGS 720 Abschnitt 3 Absatz 2 Nummer 1 bis 3) als auch für explosionsfähige Gemische unter nicht atmosphärischen Bedingungen (TRGS 720 Abschnitt 4 Absatz 2 Nummer 1 bis 3)

(2) Kann die Bildung gefährlicher explosionsfähiger Gemische nicht sicher verhindert werden, hat der Arbeitgeber zu beurteilen und zu dokumentieren:

(3) Die Beurteilung muss sich auf die konkreten örtlichen und betrieblichen Verhältnisse beziehen. Dazu müssen die relevanten Informationen über den Prozess oder die Tätigkeit vorliegen.

3.1.2 Vorgehensweise bei der Beurteilung

(1) Die grundsätzliche Vorgehensweise bei der Gefährdungsbeurteilung ist in der TRGS 720 beschrieben.

(2) Ausgangspunkt der Gefährdungsbeurteilung sind alle Einrichtungen, Prozess- und Betriebsbedingungen, die für den bestimmungsgemäßen Betrieb der Anlage einschließlich prozessnotwendiger Sonderzustände, wie z. B. An- oder Abfahren, oder die ordnungsgemäße Durchführung einer Tätigkeit erforderlich sind, im Folgenden Betriebskonzept genannt.

(3) Um das Betriebskonzept in der Gefährdungsbeurteilung bei der Festlegung von Schutzmaßnahmen berücksichtigen zu können, müssen dazu nachvollziehbare Dokumentationen vorliegen, in der auch die erforderlichen Informationen zur Bewertung von Abweichungen vom Betriebskonzept enthalten sind.

(4) Die nachfolgenden Aussagen gelten sinngemäß auch für explosionsfähige Gemische unter nicht-atmosphärischen Bedingungen oder Gemische mit anderen Oxidationsmitteln als Luft.

3.2 Beurteilung des Auftretens explosionsfähiger Atmosphäre

(1) Das Auftreten explosionsfähiger Atmosphäre muss für das Innere und für die Umgebung der zu beurteilenden Arbeitsmittel oder Anlagen beurteilt werden. Explosionsfähige Gemische unter nicht-atmosphärischen Bedingungen treten in der Regel nur im Inneren von Arbeitsmitteln oder Anlagen auf.

(2) Die Beurteilung des Auftretens explosionsfähiger Atmosphäre muss die Eigenschaften der Stoffe und deren Verarbeitung, bei der brennbare Gase, Dämpfe, Nebel oder Stäube vorhanden sind oder entstehen können, berücksichtigen.

(3) Explosionen mit gefährlichen Auswirkungen können auftreten, wenn die folgenden vier Voraussetzungen gleichzeitig erfüllt sind:

(4) Bei der Beurteilung explosionsfähiger Gemische ist die Verteilung (hoher Dispersionsgrad), z. B. in Form von Gasen, Dämpfen, Aerosolen (fein verteilte Flüssigkeits- oder Feststoffteilchen) oder aufgewirbelten Stäuben (Feststoffteilchen), und ihre Konzentration im Gemisch mit Luft oder einem anderen Oxidationsmittel zu berücksichtigen. Der Dispersionsgrad von Nebeln oder Stäuben kann für das Zustandekommen einer explosionsfähigen Atmosphäre bereits ausreichend sein, wenn die Tröpfchen- oder Teilchengröße bei < 1 mm liegt. Zahlreiche in der Praxis auftretende Nebel, Aerosole und Stäube haben Teilchengrößen zwischen 0,1 und 0,001 mm. Bei Stoffen in gas- oder dampfförmigem Zustand ist ein ausreichender Dispersionsgrad naturgemäß gegeben.

(5) Wenn die Konzentration des dispergierten brennbaren Stoffes in Luft oder einem anderen Oxidationsmittel einen Mindestwert (untere Explosionsgrenze) überschreitet, ist eine Explosion möglich. Eine Explosion ist nicht mehr möglich, wenn die Konzentration einen maximalen Wert (obere Explosionsgrenze) überschritten hat. Für Staub ist in der Regel nur die untere Explosionsgrenze von Relevanz.

(6) Hierbei sind folgende physikalische Eigenschaften und sicherheitstechnischen Kenngrößen der Stoffe zu berücksichtigen:

(7) Darüber hinaus ist der Verarbeitungszustand der Stoffe zu berücksichtigen:

(8) Für Gemische unter nicht atmosphärischen Bedingungen ist zu beachten, dass sich die Explosionsgrenzen und die Sauerstoffgrenzkonzentration ändern. Der Konzentrationsbereich, in dem explosionsfähige Gemische möglich sind, erweitert sich in der Regel mit steigendem Druck und steigender Temperatur des Gemisches (siehe auch den Anhang zu dieser TRGS). Die oberen Explosionsgrenzen liegen bei Gemischen mit gegenüber Luft erhöhtem Sauerstoffanteil wesentlich höher als bei Gemischen mit Luft. Bei einigen chemisch instabilen Stoffen (wie Acetylen oder Ethylenoxid) liegt unter bestimmten Bedingungen die obere Explosionsgrenze bei 100 %. Solche Stoffe können durch Entzündung auch ohne Anwesenheit von Luft oder Sauerstoff zu exothermen Reaktionen angeregt werden.

(9) Für Stäube ist bei der Anwendung der Explosionsgrenzen zu beachten, dass sich die Staubkonzentration durch Aufwirbeln von Ablagerungen oder durch Absetzen von aufgewirbeltem Staub stark verändern kann. Es ist z. B. möglich, dass durch Aufwirbeln von Staub explosionsfähiges Gemisch entsteht.

(10) Es ist zu beachten, dass sicherheitstechnische Kenngrößen des Explosionsschutzes in der Regel für atmosphärische Bedingungen beschrieben sind.

(11) Liegen die zur Beurteilung erforderlichen Kenngrößen nicht vor, so müssen sie ermittelt werden. Im Anhang zu dieser TRGS sind die generellen Einflüsse von Druck, Temperatur und Sauerstoffanteil auf die maßgebenden sicherheitstechnischen Kenngrößen zusammengestellt. Liegen keine ausreichenden Kenntnisse über Abhängigkeiten, verlässliche Literaturdaten oder Abschätzungen vor, müssen die Kenngrößen experimentell bestimmt werden.

3.3 Beurteilung des Auftretens einer wirksamen Zündquelle

Zur Einleitung einer Explosion muss eine wirksame Zündquelle vorhanden sein. Die Wirksamkeit von Zündquellen, d. h. die Fähigkeit, ein explosionsfähiges Gemisch zu entzünden, hängt u. a. von der Energie der Zündquelle und von den Eigenschaften des explosionsfähigen Gemisches ab. Unter anderen als atmosphärischen Bedingungen ändern sich die für die Zündung maßgebenden Eigenschaften der explosionsfähigen Gemische, z. B. verringert sich die Mindestzündenergie von Gemischen mit zunehmendem Sauerstoffgehalt. Siehe hierzu TRGS 722.

3.4 Auswirkungen einer Explosion

3.4.1 Allgemeines

(1) Im Fall einer Explosion von gefährlicher explosionsfähiger Atmosphäre ist stets mit einem hohen Schadensausmaß und mit Personenschäden zu rechnen, die von Verletzten bis zu Toten reichen können. Eine differenzierte Betrachtung der Auswirkungen ist im Beurteilungsprozess deshalb in der Regel nicht erforderlich.

(2) Eine das übliche Maß über- oder unterschreitende Explosionsauswirkung oder -gefährdung muss bzw. kann bei den zu ergreifenden Maßnahmen in Umfang und Art berücksichtigt werden.

(3) Mit einer das übliche Maß überschreitenden Auswirkung ist z. B. zu rechnen, wenn Versammlungsstätten (Kantinen usw.), Wege mit dichtem Verkehr (Straßen, viel benutzte Treppen, Fluchtwege usw.), Wohnungen und größere Büroräume im gefährdeten Bereich liegen oder wenn durch Explosionen Folgeschäden größeren Ausmaßes zu erwarten sind. Diesen Sonderfällen kann in der Regel bereits bei der Planung der Anlage durch Wahl ausreichender Abstände des explosionsgefährdeten Bereiches von den als Beispiel genannten Anlagen bzw. Einrichtungen oder durch Einsatz einer höherwertigen Gerätekategorie Rechnung getragen werden.

(4) Darüber hinaus können durch eine Explosion in der Umgebung Auswirkungen entstehen, durch die andere gefährliche oder brennbare Stoffe freigesetzt bzw. entzündet werden können.

(5) Mit einer das übliche Maß unterschreitenden Auswirkung ist z. B. zu rechnen, wenn eine explosionsgefährdete Anlage unter solchen Bedingungen betrieben wird, dass mit einer Gefährdung von Arbeitnehmern und anderen Personen nicht zu rechnen ist. Dies ist z. B. bei einer abseits gelegenen, ferngesteuerten Anlage mit automatisch arbeitenden Notfunktionen der Fall.

3.4.2 Ermittlung der Menge explosionsfähiger Atmosphäre

(1) Zusätzlich zu den in Abschnitt 3.2 Absatz 6 genannten physikalischen Eigenschaften und sicherheitstechnischen Kenngrößen der Stoffe sind je nach Erfordernis zu berücksichtigen:

(2) Die Dichte der Dämpfe aller brennbaren Flüssigkeiten ist größer als die der Luft bei gleicher Temperatur. Die Dichte von Gasen ist in der Regel größer als die Dichte der Luft (schwere Gase). Hiervon ausgenommen sind z. B. Acetylen, Ammoniak, Cyanwasserstoff, Ethylen, Kohlenmonoxid, Methan oder Wasserstoff. Treten Gase tiefkalt aus, ändert sich das Verhalten (Schwergasverhalten). Dämpfe oder schwere Gase fallen nach unten und breiten sich aus, wobei sie sich fortschreitend mit der zur Verfügung stehenden Luft vermischen. Sie können auch über weite Strecken "kriechen" und dort entzündet werden. Gase, die leichter als Luft sind, steigen umso schneller nach oben, je geringer ihre Dichte ist; sie vermischen sich hierbei fortschreitend mit Luft. Die Entmischung eines einmal gebildeten Gemisches in leichte und schwere Anteile allein durch die Schwerkraft ist nicht möglich.

(3) Die Dichte des sich über einer Flüssigkeit bildenden Dampf/Luft-Gemisches wird durch den temperaturabhängigen Sättigungsdampfdruckes der Flüssigkeit begrenzt. Die auf Luft bezogene Dichte des sich über der Flüssigkeit bildenden Dampf/Luft-Gemisches lässt sich wie folgt berechnen:

ρv = Dv x Ps + (1 – Ps)

mit

ρv Dichteverhältnis Dampf/Luft-Gemisch zu Luft
Dv Dichteverhältnis Brenngas (Dampf) zu Luft
Ps Sattdampfdruck des Brenngases bzw. Dampfes in bar.

So beträgt z. B. die auf Luft bezogene Dichte (Dichteverhältnis) des Dampfes von Hexan 2,97. Da jedoch Hexan bei 20 °C nur einen Sattdampfdruck von 0,16 bar hat, ergibt sich aus o. g. Gleichung ein auf Luft bezogenes Dichteverhältnis von

ρv = 2,97 x 0,16 + (1 - 0,16) = 1,3.

Das so ermittelte Dichteverhältnis ist bei der Beurteilung von Schwer- oder Leichtgasverhalten des Gemisches zu berücksichtigen.

(4) Der Diffusionskoeffizient wird für die Bestimmung der explosionsfähigen Atmosphäre in der Regel nur dann benötigt, wenn im Raum keine konvektiven Strömungen vorhanden sind.

(5) Über die nach Absatz 1 zu berücksichtigenden Eigenschaften der Stoffe hinaus sind die örtlichen und betrieblichen Verhältnisse zu berücksichtigen:

3.4.3 Beurteilung der Gefährlichkeit explosionsfähiger Atmosphäre

(1) Die Gefährlichkeit einer explosionsfähigen Atmosphäre wird insbesondere durch die Mengen und die Art ihres Einschlusses, z. B. in Behältern, mehr oder weniger geschlossenen Räumen, Gruben, Kanälen und im Freien, beeinflusst.

(2) Mehr als 10 Liter zusammenhängende explosionsfähige Atmosphäre müssen in geschlossenen Räumen unabhängig von der Raumgröße grundsätzlich als gefährliche explosionsfähige Atmosphäre angesehen werden. Auch kleinere Mengen können bereits gefahrdrohend sein, wenn sie sich in unmittelbarer Nähe von Menschen befinden. In Räumen von weniger als etwa 100 m3 kann auch eine kleinere Menge als 10 Liter gefahrdrohend sein. Eine grobe Abschätzung ist mit Hilfe der Faustregel möglich, dass in solchen Räumen explosionsfähige Atmosphäre von mehr als einem Zehntausendstel des Raumvolumens gefahrdrohend sein kann, also z. B. in einem Raum von 80 m3 bereits 8 Liter. Hieraus darf aber nicht gefolgert werden, dass dann der gesamte Raum als explosionsgefährdeter Bereich gilt. Nur der Teilbereich, in dem gefährliche explosionsfähige Atmosphäre auftreten kann, gilt als explosionsgefährdeter Bereich. Die Auswirkungen einer Explosion können jedoch darüber hinausgehen und sind zu betrachten.

(3) Bei vielen brennbaren Stäuben reicht bereits eine gleichmäßig über die gesamte Bodenfläche verteilte Staubablagerung von weniger als 1 mm Schichtdicke aus, um beim Aufwirbeln einen Raum normaler Höhe mit einem explosionsfähigen Staub/Luft-Gemisch vollständig auszufüllen. Infolge einer ersten Explosion kann abgelagerter Staub aufgewirbelt werden und zu Folgeexplosionen führen. In der Gefährdungsbeurteilung ist dies besonders zu beachten, weil in diesem Fall explosionsfähige Staub/Luft-Gemische und wirksame Zündquellen gleichzeitig auftreten.

(4) Befindet sich explosionsfähiges Gemisch in Behältern oder Anlagenteilen, die dem möglicherweise auftretenden Explosionsdruck nicht standhalten, so sind wegen der Gefährdung, beispielsweise durch Splitter beim Bersten, weitaus geringere Mengen als die oben angegebenen als gefahrdrohend anzusehen. Eine untere Grenze kann hierfür nicht angegeben werden.

3.4.4 Beschränkung der Auswirkungen von Explosionen

(1) Anforderungen zur Beschränkung der Auswirkung von Explosionen auf ein unbedenkliches Maß können TRGS 724 entnommen werden.

(2) Zusätzlich zu den in Abschnitt 3.2 Absatz 6 genannten Eigenschaften der Stoffe sind je nach Erfordernis zu berücksichtigen:

(3) Bei besonderen örtlichen Verhältnissen sind unabhängig davon die physikalischen Wirkungen einer Explosion, z. B. Flammenausbreitung und Wärmestrahlung, Druckwirkungen, Möglichkeiten zur Ausbildung von Detonationen, zu betrachten.

(4) Die sich in explosionsfähiger Atmosphäre ausbreitenden Flammen können ein Volumen einnehmen, das etwa zehnmal so groß ist wie das der explosionsfähigen Atmosphäre vor ihrer Entzündung. Dies gilt auch für explosionsfähige Gemische bei anderen Drücken und Temperaturen. Bei explosionsfähigen Gemischen mit gegenüber Luft erhöhten Sauerstoffanteilen können die sich ausbreitenden Flammen ein Volumen bis zum 30-fachen einnehmen. Bei Ausbreitung in einer Richtung muss deshalb mit entsprechend langen Stichflammen gerechnet werden.

(5) In lang gestreckten Behältern oder Rohrleitungen sowie bei explosionsfähigen Gemischen unter erhöhtem Druck oder explosionsfähigen Gemischen mit gegenüber Luft erhöhten Sauerstoffanteilen besteht die Gefahr der Ausbildung von Detonationen. Detonationswellen haben beim Aufprall auf Hindernisse eine besonders starke zerstörende Wirkung.